Warum additive Fertigung nicht checklistenfreundlich ist – und wie Unternehmen dadurch bessere Produkte schaffen
- Philipp Süß
- 5. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Viele Unternehmen versuchen, additive Fertigung in bestehende Prozesse einzugliedern – mit bestehenden Materiallisten, Zeichnungsvorgaben, QM-Vorgaben und Serienanläufen. Was dabei übersehen wird: Diese Prozesse wurden für konventionelle Fertigung entwickelt – bei der additiven Fertigung braucht es jedoch in vielen Fällen ein anderes Vorgehen.

Wer erwartet, additive Fertigung genauso „abarbeiten“ zu können wie Fräsen oder Spritzguss, steht vor Reibungsverlusten, Kostenexplosionen oder technischen Misserfolgen.
Und doch ist genau das die große Chance: Additive Fertigung eröffnet neue, wertvolle Möglichkeiten – wenn man bereit ist, die bestehenden Denkweisen zu hinterfragen.
Warum klassische Fertigungsprozesse bei der additiven Fertigung scheitern
Additive Fertigung ist nicht einfach ein weiteres Fertigungsverfahren – sie verändert grundlegend, wie Produkte gedacht, entwickelt und gefertigt werden.
Wer auf vertraute Werkstoffe besteht, steht vor einem Verfügbarkeitsproblem.
Wer klassische Toleranzen fordert, kommt in die Nacharbeitshölle.
Wer den Serienanlauf wie beim Spritzguss plant, verliert Monate – obwohl die Bauteile längst fertig sein könnten.
Additive Fertigung ist nicht inkompatibel – sie ist nur anders. Wer sie mit alten Maßstäben misst, misst falsch.
Typische Fehler im Umgang mit additiver Fertigung – und wie man sie vermeidet
1. Materialanforderungen vs. Materialrealität
Checklisten fragen: „Ist das Material freigegeben?“ Additive Fertigung fragt: „Was muss das Bauteil wirklich leisten – und welches additive Material passt am besten dazu?“ Die Realität: Werkstoffe müssen neu bewertet, qualifiziert und verstanden werden – nicht übernommen.
2. QM-Systeme ohne Prozessverständnis
Klassische QS verlangt: Nachweiskette, Chargenrückverfolgung, Spezifikationskonformität. Die klassische Prozesskette basiert auf klar getrennten Schritten von Materialeingang bis Endprodukt – inklusive lückenloser Nachweisdokumentation. In der additiven Fertigung entstehen Geometrie und Werkstoffeigenschaften gleichzeitig – sie sind untrennbar miteinander verknüpft. Das erfordert andere, integrierte Ansätze zur Qualitätssicherung.
3. Toleranzdenken als Innovationsbremse
Die Toleranztabelle der Zerspanung lässt sich nicht auf die AM-Maschine übertragen. Was oft folgt: kostspielige Nacharbeit oder vermeidbare Ausschussquoten. Was besser wäre: Konstruktive Integration – also Teile so gestalten, dass Passungen, Fügestellen oder Vormontagen gar nicht erst notwendig sind. Und wenn es doch genau sein muss: Additive Fertigung ist selten eine Stand-alone-Lösung. Um hohe Maßgenauigkeit zu erreichen, werden funktionsrelevante Bereiche gezielt spanend nachbearbeitet – geplant, nicht improvisiert.
4. Zeitvorgaben ohne Systemblick
„Zu langsam für die Serie“ – so lautet oft das Urteil. Dabei entfällt bei AM der gesamte Werkzeugbau, Vorrichtungsaufwand und Serienhochlauf. Wer den Prozess von der Idee bis zum fertigen Teil denkt, erkennt: In vielen Fällen ist additive Fertigung die schnellere – und wirtschaftlichere – Lösung. Wichtig ist dabei: Additive Fertigung soll konventionelle Verfahren nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen. Drehteile, Frästeile, Spritzgussteile – sie alle behalten ihre Berechtigung, wo sie wirtschaftlich und technisch überlegen sind. Der Mehrwert liegt in der richtigen Kombination.
5. Oberflächenangaben ohne Zielbezug
Technische Zeichnungen fordern oft glatte Flächen – als Standard. In der additiven Fertigung bedeutet das gezielten Mehraufwand, da glatte Oberflächen nicht automatisch entstehen. Mit dem richtigen Post-Processing kann eine AM-Oberfläche jedoch einem Spritzgussteil ebenbürtig sein – oder bewusst durch eine texturierte Oberfläche funktional oder ästhetisch veredelt werden.
Praxisbeispiel: Additive Fertigung erfolgreich in bestehende Prozesse integrieren
In einer Schulung für das Instandhaltungsteam eines internationalen Chemiekonzerns zeigte sich, wie lähmend fehlende Standards sein können: Die additive Fertigung war verfügbar – wurde aber kaum genutzt, weil klare Abläufe fehlten.
Gemeinsam entwickelten wir zunächst einen bewusst begrenzten Rahmen: Fünf geeignete Werkstoffe, vorläufige Prozessschritte von Konstruktion bis Qualitätssicherung, erste Projekte mit klaren Zuständigkeiten.
Der Effekt: Aus Unsicherheit wurde Handlungsfähigkeit. Die Mitarbeiter produzierten erste Funktionsteile – mit greifbarem Erfolg.
Auf dieser Basis entsteht nun eine individuelle Werksnorm – nicht durch Übernahme externer Regeln, sondern durch schrittweise Standardisierung gelebter Praxis und deren kontinuierliche Verbesserung.
Wie additive Fertigung neue Anforderungen an Standards und Qualität stellt
Additive Fertigung ist nicht der „Exot“ unter den Fertigungstechnologien. Sie ist keine Spielerei, kein Versuchsballon – und braucht auch keinen Welpenschutz. Wer sie einsetzt, muss sie wie jedes andere Fertigungsverfahren ernsthaft bewerten – an Kosten, Qualität und Reifegrad.
Aber: Diese Bewertung muss auf Basis ihrer eigenen Logik erfolgen. Viele vermeintliche Schwächen entstehen nicht, weil AM etwas „nicht kann“, sondern weil man die falschen Anforderungen anlegt – aus Gewohnheit.
Wer additive Fertigung mit CNC-Maßstäben bewertet, wird zwangsläufig enttäuscht. Wer aber den Bewertungsrahmen anpasst, erkennt: Die Technologie ist nicht mehr fordernd – sie ist nur anders fordernd.
Additive Fertigung verlangt Verantwortlichkeit, Prozesskontrolle, Reproduzierbarkeit – wie jedes andere Verfahren auch. Nur eben ohne Checkliste von gestern.
Strategische Vorteile durch additive Fertigung richtig nutzen
Die additive Fertigung scheitert nicht an bestehenden Prozessen – sie demaskiert ihre Grenzen.
Sie zwingt uns, Fragen zu stellen wie:
Muss dieses Teil wirklich aus fünf Einzelkomponenten bestehen?
Muss diese Oberfläche wirklich glatt sein?
Ist es sinnvoll, sechs Monate auf ein Werkzeug zu warten?
Wollen wir wirklich immer erst freigeben und dann verstehen?
Diese Fragen führen zu besseren Antworten – und genau darin liegt die Stärke von AM.
Fazit: So etablieren Sie additive Fertigung als wirtschaftliches Fertigungsverfahren
Drei pragmatische Empfehlungen:
Checklisten überarbeiten statt ungeeignete Maßstäbe verwenden: Wer AM mit alten Maßstäben misst, verhindert Fortschritt. Definieren Sie neue Materialstandards, Toleranzklassen und QM-Verfahren.
AM nicht „einführen“, sondern integrieren: Denken Sie additive Fertigung nicht als Zusatz, sondern als Teil einer neuen Logik – vom Design bis zur Logistik.
Produktentwicklung neu denken:
AM ist nicht nur ein neues Produktionsmittel, sondern ein neues Innovationswerkzeug. Wer damit richtig umgeht, verändert mehr als nur das Bauteil – er verändert sein Geschäftsmodell.
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